Politik-Parcours an der Rhenanus-Schule

1Zunächst wirkt die Szene wie der Beginn eines Kongresses: Schlange stehen vor der Registrierung. Bevor die Schüler/innen in den Seminarraum hineingelassen werden, sollen sie sich eintragen – mit Namen, Unterschrift und kurioserweise mit der Angabe, ob ihre Mutter im Werra-Meißner-Kreis geboren wurde. Fällt die Antwort positiv aus, erhalten sie ein grünes Armband und sie dürfen den Raum sofort betreten.

Im anderen Fall aber werden sie mit einem gelben Armband registriert und sie müssen erst einmal vor der Tür warten, bis alle Schüler mit einheimischer Mutter die Kontrolle passiert haben.

Für die meisten eine neue Erfahrung: Wie fühlt man sich, wenn man als „Fremder“ ausgegrenzt wird? Die Schulsozialarbeiter und Jugendpfleger aus dem Kreis und den Kommunen möchten mit ihrem neuen Politik-Parcours die Schüler dazu bringen, das hochaktuelle Thema „Flüchtlinge und Migration“ einmal aus der Perspektive der Betroffenen zu erleben.

Laura von Klovsky, ehrenamtlich für die Kreisjugendförderung tätig, Lisa Kaufmann von der Brüder-Grimm-Schule, Daniel Schindewolf von der Rhenanus-Schule und Norbert Woltmann, Jugendpfleger in Bad Sooden-Allendorf, begleiten die Schüler von 8. und 9. Klassen durch eine Vielzahl ideenreich gestalteter Stationen, die ihnen die Erfahrungen „Flucht“ und „Leben in der Fremde“ näherbringen sollen.

Wenn eine Wüste sich ausbreitet und die Erträge der eigenen Landwirtschaft bedrohlich verringert, aber auch wenn Lebensgefahr auf Grund von Krieg oder Unterdrückung droht, wären die Schüler – wie sich zeigt – schweren Herzens dazu bereit, das eigene Herkunftsland zu verlassen, um ihr Leben zu retten. Dies wird in der Station „Menschenrechte“ deutlich, bei der den Schülern unter anderem auch bewusst wird, dass nicht alle Länder ein funktionierendes Rechtssystem haben.

In einer weiteren Station sollen die Rhenanus-Schüler wie Flüchtlinge entscheiden, welche fünf Dinge sie auf ihren langen und beschwerlichen Weg mitnehmen sollen: „Klar, ein Handy braucht man natürlich, um Kontakt zur Familie zu behalten. Eine Jacke, Geld und Dokumente. Und wenigstens eine Zahnbürste?“ Die Möglichkeiten sind sehr begrenzt. Es reicht nur für das Allernotwendigste.

Ein Brettspiel mit vielen Ereigniskarten zeigt den Schülern daraufhin, was die Menschen unterwegs erleben können: Da hat der Flüchtling die Möglichkeit, illegal zu arbeiten, um zu Geld zu kommen. Womöglich wird er dabei aber auch von der Polizei erwischt, verhaftet und abgeschoben? In Schwierigkeiten gerät auch, wer die Ereigniskarte „Überfall im Flüchtlingslager“ zieht. Soll er sich etwa mit Gewalt verteidigen oder nicht?

Es gibt aber auch gute Ereignisse: Da hilft jemand dem Flüchtenden mit Medikamenten. Vielleicht wird man sogar einmal von Einheimischen eingeladen – oder es gelingt, die eigene Familie wiederzufinden.

„Das ist ja ein cooles Spiel“, kommentieren die Schüler beeindruckt. „Gibt’s das auch zu kaufen?“ – Nein, das Spiel ist ein Einzelstück und wurde von den Sozialarbeitern eigens für diesen Politik-Parcours entwickelt. Finanziert wurde es wie die anderen Materialien mit Hilfe des Projekts „Demokratie leben“ und durch den Werra-Meißner-Kreis.

Und wie fühlt man sich als Flüchtender, wenn man nun endlich am Ziel angekommen ist? Die Station „Integration“ zeigt die Kommunikationsprobleme, die in der fremden Kultur auftreten können: Dazu wird einem Schüler ein Kopfhörer aufgesetzt, unter dem er nur bedeutungsloses Stimmengewirr hören kann. Andere Schüler haben die Aufgabe, ihm auf irgendeinem Weg lebensnahe Botschaften mitzuteilen, etwa: „Setz dich auf einen anderen Stuhl. Das ist nicht dein Platz!“ Wie macht man das einem „Fremden“ klar? Trägt man ihn einfach weg? Und wie fühlt der sich, wenn er so behandelt wird? Das sind Erfahrungen, die unter die Haut gehen.

In der Station „Meinungsbildung“ sind die Schüler zunächst in einem Zelt und sehen ein Video mit Zeitungsmeldungen über Flüchtlinge, die ausschließlich negativ besetzt sind: „Was macht das mit einem? Was für ein Bild erhalten wir von den Flüchtlingen?“, fragt Laura von Klovsky. „Man darf doch nicht von Einzelnen auf alle schließen“, antworten die Schüler. „In unserem Ethik-Kurs sind doch auch viele Flüchtlinge. Die sind ganz anders.“ – „Überhaupt: Dieser Zeitung würde ich sowieso nicht trauen.“ Kaum vorstellbar, dass Schüler, die zu solchen Einsichten gelangt sind, es sich noch einmal gefallen lassen werden, nach dem Geburtsort ihrer Mutter ausgesondert zu werden.